Digitale Inklusion

Autor*innen: Christa Markom, Jelena Tošić, Magdalena Steger

Tags: Inklusion, Digitalisierung, Digitale Kompetenz, Digitale Kluft, Digitale Alterskluft, Digital Gender Gap, Digital Queer Gap, Digitale Kultur, Digitales Geschichtenerzählen, Digitale Weltgestaltung, Cyberethik, Digitale Transformation, Digitale Inklusion

Digitale Inklusion kann in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben, digitale Zugänglichkeit bedeutet jedoch, die Nutzung digitaler Systeme und Dienste durch eine möglichst hohe Anzahl von Menschen. Je nach sozialem Umfeld, in dem jemand lebt, arbeitet oder studiert kann digitale Inklusion unterschiedlich definiert werden. Darüber hinaus erforschen und nutzen verschiedene Disziplinen und Forschungsbereiche das Wissen über digitale Inklusion (darunter Sozial- und Kulturanthropologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, technische Studien, Geisteswissenschaften, Architektur, Ingenieurwesen und Mathematik).

Digitale Inklusion kann sich auf die Fähigkeit von Einzelpersonen und Gruppen beziehen, Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien zu erhalten sowie diese zu nutzen, unabhängig von Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Standort, Sprache, körperliche Herausforderungen usw.

Jochim (2021) definiert digitale Inklusion als die Möglichkeit für jeden, an der digitalen Welt teilzunehmen. Dabei bezieht sich der Begriff vor allem auf digitale Teilhabe und die damit verbundenen Fragen nach sozialer Ungleichheit und des ungleichen Zugangs zu Medien und Internet. Es ist jedoch nicht nur der Zugang zum Internet gemeint, sondern auch der Ausschluss aufgrund fehlender Infrastruktur. Eine Reihe von Autor*innen (z. B. Norris, 2001) verwenden in diesem Zusammenhang die Begriffe digitale Kluft und digitale Ungleichheit (Robinson et al., 2015). Darüber hinaus sind digitale Fähigkeiten von Einzelpersonen von hoher Relevanz, die in dem Diskurs um digitale Kompetenzen thematisiert werden (Vuorikari et al., 2016). Nur selten diskutiert wird die Dynamik zwischen digitalen Kultur(en) und Cyberethik, diese sind weitere Konzepte, die zu einer anderen Perspektive auf Wahrnehmungen von Digitalität führen können (Köhler, 2021). Häufig fehlen Kompetenzen (beispielsweise bei Webdesigner*innen und Programmierer*innen) für digital-inklusive Kommunikation aufgrund mangelnder Kenntnisse der Gebärdensprache, der Blindenschrift, der Verwendung von Bildunterschriften, der Erstellung von Bildbeschreibungen und anderer unterstützender Medien, wie sie in den Richtlinien für barrierefreie Webinhalte festgelegt sind.

Der soziologische Ansatz von Dickel und Franzen (2015) zum Thema digitale Inklusion zeigt, dass der digitale Wandel in den letzten Jahrzehnten zu neuen Möglichkeiten der digitalen Teilhabe und Interaktion in und durch digitale Medien geführt hat. Sie betrachten die zunehmende digitale Nutzung als ein Zeichen für eine stärkere Teilhabe der Gesellschaft an dem Digitalen, was auch die digitale, wissenschaftliche Welt einschließt. Es gibt neue Möglichkeiten und Entwicklungen digitale Inhalte zu teilen und zu kommentieren. Franzen und Dickel sprechen hier von einer “Demokratisierung der Wissenschaft”. Grundlage dieser Definition ist Dirk Baeckers (2016) Anwendung der Luhmannschen Theorie des Epochenwechsels auf den Kontext und die Prozesse der Digitalisierung. Die Idee ist, dass die Digitalisierung das Potenzial hat, gesellschaftliche Formationen zu verändern. Das bedeutet, dass sich die Digitalisierung nicht nur auf neue Partizipationsmöglichkeiten bezieht, sondern auch die Gesellschaft, sowie die sozialen Beziehungen verändert und damit die Dynamik und das Verständnis von (digitaler) Inklusion neu definiert wird (Dickel & Franzen, 2015).

Lea Schulz (2020) fasst das Phänomen der digitalen Inklusion in ihrem neuartigen Konzept der “Diklusion” zusammen, das einen Versuch darstellt, Digitalität und Inklusion ganzheitlich zu denken. Dieser Begriff bezieht sich auf den Umgang mit und die Nutzung von digitalen Medien unter dem Aspekt der Inklusion. Da es sich um ein inklusives Konzept handelt, beeinflussen sich die beide Phänomene (Digitalität und Inklusion) gegenseitig und können voneinander profitieren. Schulz verwendet diesen Begriff im Kontext des Bildungssektors, aber er kann auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen und in Bezug auf verschiedene soziale Phänomene und Prozesse angewendet werden, wie z. B. Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Mehrsprachigkeit, Migration, sexuelle Identität, geistige, sensorische oder körperliche Herausforderungen, Familie, Religion, Weltgestaltung, kulturelle Elemente, Alter, sozioökonomischer Status und viele andere (Schulz, 2020).

Der Begriff Diversität kann mit Vielfalt oder Heterogenität übersetzt werden. Dazu gehören verschiedene Dimensionen wie: Geschlecht, sexuelle Identität, Alter, Weltanschauung, soziale und ethnische Herkunft, Gesundheit und vieles mehr. Inklusion greift diese Begriffe im Kontext der Diversität auf und beleuchtet sie themenübergreifend in vielen gesellschaftlichen Bereichen des Lebens, Arbeitens und Lernens. Durch neue Möglichkeiten der digitalen Nutzung können soziale Phänomene wie Aktivismus aus der offline Welt in die online Welt übertragen werden, was als digitaler Aktivismus bezeichnet wird (zum Beispiel die Behindertenrechtsbewegung zur Anerkennung des Lobbyismus von Organisationen und Einzelpersonen, die Menschen mit einer Behinderung vertreten, z.B. “nicht ohne uns über uns”). Politische Auseinandersetzungen können so in die virtuelle Sphäre verlagert werden. Neben der politischen Dimension stellt sich die Frage, ob digitale Inklusion als Menschenrecht betrachtet werden sollte (Flavo, 2017). Mit dem Internet ist es möglich Ideen, Ideologien und Ansätze auf der ganzen Welt zu verbreiten. Insbesondere für junge Menschen, die mit den digitalen Medien aufwachsen, ist es ein Medium zum Austausch von Geschichten, Erfahrungen und Wünschen. Diese Prozessen und Praktiken können durch das Konzept des digitalen Geschichtenerzählens erfasst werden (Dogan, 2021).

Neben den zahlreichen Vorteilen, die mit der Nutzung der digitalen Medien einhergehen, gibt es auch Aspekte der Ausgrenzung. Wie in vielen anderen Bereichen gibt es einen sogenannten „Digital Gender Gap“ sowie „Digital Queer Gap“, die weltweit unterschiedlich auftreten können (Mobile Gender Gap Report, 2020). Ein weiterer Aspekt der Exklusion ist der „Digital Age Gap“. Die Digitalisierung kann zu sozialer Ungleichheit führen, speziell für ältere Menschen (65+), die aus unterschiedlichen Gründen dazu neigen digitale Medien in geringerem Ausmaß zu nutzen (Schumacher Dimech & Misoch, 2017). Das kann zu einer weniger ausgeprägten, digitalen Kompetenz führen (Jones & Hafner 2021; Falloon, 2020). Diese digitale Kluft lässt sich unter dem Begriff „Digital Divide“ zusammenfassen, der die Ungleichheit bei der Nutzung und dem Zugang zu digitalen Medien beschreibt (Hartung-Ziehlke, 2020).

Heute ist es in vielen Ländern üblich, Zugang zu Internet und zu digitalen Geräten zu haben. Die digitale Inklusion hängt jedoch auch mit sozioökonomischen Faktoren zusammen, da es nicht jedem möglich ist, die erforderliche digitale Infrastruktur wie PCs, Laptops, Smartphones und Internetzugänge mittels Wi-Fi-Geräte, zu kaufen. Ein zweiter wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang bezieht sich auf die digitale Bildung und wird als “digitale Kompetenz” bezeichnet (Jones & Hafner, 2021) (Falloon, 2020). Viele Apps und Websites gehen davon aus, dass jede*r Nutzer*in mit den teilweise komplexen Anforderungen umgehen kann. Daher müssen Nutzer*innen neben der notwendigen Infrastruktur auch über spezifische digitale Kompetenzen verfügen (Garmendia & Karrera, 2019). Zwei verwandte Begriffe sind in diesem Zusammenhang: „digital native“ und „digital naive“. Sie beschreiben, inwieweit und auf welche Weise, Menschen digitale Medien kritisch, kreativ und vielfältig nutzen können (Ganguin & Meister, 2013).

Wie bereits erwähnt (Frindte & Köhler, 1999) gibt es digital-kommunikative Technik, die inklusiven Settings dient. Speziell seit der Covid-19 Pandemie, führt die Notwendigkeit der Entwicklung von digitalen Kompetenzen und unterstützenden Programmen zu einer Verbindung von unterschiedlichen Ansätzen auf internationaler Ebene mit europäischen (DIGCOMP, 2022) oder sogar globalen Standardisierung (UNESCO OER, 2022; UN SDGs, 2022).

Soziale Ausgrenzung hängt häufig mit digitaler Ausgrenzung zusammen, da auch die sprachlichen Aspekte berücksichtigt werden müssen, wenn man versucht, das Digitale als einen Raum der Ein- und Ausgrenzung zu verstehen. Vor allem für ethnische Minderheiten ist es häufig schwierig, sich im Internet zurechtzufinden, da es selten Webseiten in ihrer Erstsprache (z. B. Romani) gibt oder die Möglichkeit zur Übersetzung nicht besteht. (Garmendia & Karrera, 2019).

Die sogenannte digitale Transformation erstreckt sich auf alle Bereiche der Gesellschaft. Die Bedingungen für den Zugang zu Wissen und Möglichkeiten des Lernens sowie andere Formen der digitalen Beteiligung, werden weltweit von den technologischen Bedingungen beeinflusst. Nicht nur in Europa stehen Pädagog*innen vor der Herausforderung, digitale Medien in der Lehrer*innenausbildung und in anderen Bildungseinrichtung umfassend zu nutzen bzw. deren Nutzung zu ermöglichen und zu unterstützen. Neue Medienkonzepte wie BYOD (bring your own device) oder OER (open educational resources) stellen nur einen Teilaspekt einer vergleichsweise umfangreichen Entwicklungsdynamik dar. Die Industrie selbst löst im Kontext der sogenannten 4.0-Metapher und der entsprechenden neuen Produktionstechnologien weitere Dynamiken aus, die umfangreiche Impulse für potenziell inklusive Praktiken erfordern (Köhler & Marquet, 2017).

Literatur:

Baecker, D. (2016). Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? In R. Gläß, & B. Leukert, Handel 4.0: Die

Digitalisierung des Handels- Strategien, Technologien, Transformation (S. 3-24). Berlin: Springer Gabler.

Dickel, S., & Franzen, M. (2015). Digital Inclusion: The Social Implications of Open Science. Zeitschrift für Soziologie, S. 330-347.

Dogan, B. (2021). University of Houston: Digital Storytelling. Von https://digitalstorytelling.coe.uh.edu/page.cfm?id=27&cid=27 abgerufen

European Commission (30. März 2022). DigComp. Von https://joint-research-centre.ec.europa.eu/digcomp_en abgerufen

Falloon, G. (2020). From digital literacy to digital competence: the teacher digital competency (TDC) framework. Education Technology Research Development. S. 2449-2472.

Flavo, F. A. (2017). Performing digital activism. New York: Routledge.

Frindte, W. & Köhler, T. (1999). Kommunikation im Internet. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag.

Ganguin, S., & Meister, D. (2013). Digital native oder digital naiv? – Medienpädagogik der Generationen. München: kopaed.

Garmendia, M., & Karrera, I. (2019). ICT Use and Digital Inclusion among Roma/Gitano Adolescents. Media and Communication. S. 22-31.

GSMA (2020). Connected Women: The Mobile Gender Gap Report 2020. Von https://www.gsma.com/mobilefordevelopment/wp-content/uploads/2020/05/GSMA-The-Mobile-Gender-Gap-Report-2020.pdf abgerufen

Hartung-Ziehlke, J. (2020). Inklusion durch digitale Medien in der beruflichen Bildung. Wiesbaden: Springer Verlag.

Jochim, V. (2021). Inklusion durch digitale Medien? Medienpädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. S. 118-133.

Jones, R. H., & Hafner, C. A. (2021). Understanding Digital Literacies: A practical Introduction. London, New York: Routledge.

Köhler, T. (2021). Didactic modeling of a digital instrument for the perception, construction and evaluation of ethical perspectives in AI systems. Proceedings of the 8th International Conference on Learning Technologies and Learning Environments. S. 172-177.

Marquet, P. & Köhler, T. (2017). The empowerment of users: rethinking educational practice online. In F.M. Dobrick, J. Fischer & L.M. Hagen,

Research Ethics in the Digital Age. Ethics for the Social Sciences and Humanities in Times of Mediatization and Digitization (S. 70-84). Berlin: Springer Verlag.

Norris, P. (2001). Digital Divide: Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide. Cambridge: Cambridge University Press.

Robinson, L. Cotten, S. R., Ono, H., Quan-Haase, A., Mesch, G., Chen, W., Schulz, J., Hale, T.M & Stern, M. J. (2015). Digital inequalities and why they matter. Information, Communication & Society. S. 569-582.

Schulz, L. (2020). Diklusion. Von https://leaschulz.com/ abgerufen

Schumacher Dimech, A., & Misoch, S. (2017). Nutzung von digitalen Dienstleistungen bei Menschen 65+. St. Gallen: FHS St. Gallen.

UNESCO OER (30. März 2022). UNESCO-Empfehlung zu Open Educational Resources (OER). Von https://www.unesco.at/bildung/bildung-2030/artikel/article/unesco-empfehlung-zu-open-educational-resources-oer abgerufen

UNICEF (30. März 2022). Sustainable Development Goals. Von  https://unicef.at/kinderrechte-oesterreich/sustainable-development-goals/?gclid=Cj0KCQjw_4SBhCgARIsAAlegrVTpnWwG3gvvniCnHZNpgxH_taZ6WuHut4B_O2Xme_029BLhSAhoo8aArwgEALw_wcB abgerufen

Vuorikari R., Punie, Y., Carretero, Gomez S. & Van Den Brande, G. (2016). DigComp 2.0: The Digital Competence Framework for Citizens. Update Phase 1: the Conceptual Reference Model. Luxembourg: Publications Office of the European Union.