Digitale Kultur

Autor*innen: Thomas Köhler
Tags: DigitalisierungDigitale KompetenzDigitale Inklusion

Digitale Kultur ist ein Konzept, das beschreibt, wie Technologien sowie das Internet die Art und Weise, wie wir als Menschen oder Gruppen interagieren, prägen. Es handelt sich dabei immer auch um ein gemeinsames, kollektives Phänomen, das von der eigenen Umgebung gelernt wird. Man kann es zum Beispiel eingrenzen auf eine Organisation oder eine digitale Realität, was zu spezifischeren Konzepten führt. Unter Digitale Kultur versteht man die Art und Weise, wie wir uns in der heutigen Gesellschaft in Bezug auf Digitales verhalten, denken und kommunizieren (Gergen, 1991; Frindte & Geschke, 2019). In dieser Interpretation ist digitale Kultur das Produkt von digitalen Technologie, die immer mehr Teil unseres Alltags ist – und die durch unsere Nutzung der Technologie verändert wird.   

Die digitale Kultur entstand aus kulturellen und sozialen Perspektiven auf Informationstechnologie, elektronische Texte, das semantische Web und die Philosophie der vernetzten Wissensgesellschaft (Apollon & Desrochers, 2014). Aufgrund der weiten Verbreitung von Technologien und technologischen Praktiken kann das alltägliche Leben als digitale, kulturelle Praxis angesehen werden (Köhler, 2003). Eine solche Praxis ist allerdings nicht neu und auch nicht auf digitale Technologien beschränkt (Bijker, Hughes & Pinch, 1987).  

Darüber hinaus ist die digitale Kultur das Ergebnis technologischer Innovationen und hat durch die Übernahme dieser Innovationen zu veränderten kulturellen Praktiken für soziale Einheiten geführt (Fischer, 2012). Das Konzept der digitalen Kultur ist auf nahezu jedes Thema anwendbar. Somit hat sie nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine übergreifende, epistemologische Bedeutung (Koschtial, Köhler & Felden, 2021).  Es ist zu erwarten, dass jede Beziehung zwischen Menschen auch eine Beziehung zu und über Technik beinhaltet (Kahnwald, 2013; Köhler, 2021).  

Was bedeutet dieser Ansatz nun für die Bildung? Wird davon ausgegangen, dass die digitale Technologie zu einem Mittel der kulturellen Praxis wird, sollte man ihre Relevanz auch im Bereich der Bildung anerkennen, insbesondere im Kontext der Covid-19 Pandemie. Die Bildungspraxis könnte in großen Bereichen von der Einbeziehung digitaler Medien profitieren. Dafür muss eine sich verändernde (dynamische) Bildungskultur akzeptiert werden, damit digitale Medien als innovativ in Bezug auf die Unterstützung von Zugänglichkeit und Heterogenität in jedem Bildungskontext angesehen werden, wie zum Beispiel beim Lernen zu Hause oder ohne Unterstützung von Lehrer*innen.  

Inklusive Bildungspraxis kann in Konflikt mit der formalen Bildung, d. h. der allgemeinen und der Hochschulbildung geraten, da diese nicht immer einen Bildungsauftrag hinsichtlich digitaler Inklusion hat und dazu angehalten wird, innovative Angebote zur gesellschaftlichen Partizipation bereitzustellen. Der Unterricht in Schule und Hochschule muss, damit er für alle zugänglich ist, deutlicher auf die unterschiedlichen Lernfähigkeiten und -merkmale des/der Einzelnen ausgerichtet und personalisiert werden. Dazu können insbesondere digital unterstützte Formen des Lernens hilfreich sein. Darüber hinaus eröffnen datengestützte Ansätze zum Lernverhalten vielfältige und vor allem neue Methoden für das Lehrpersonal, wie zum Beispiel Learning Analytics und Tailored Training (Köhler & Kahnwald, 2005).   

Es wird vermutet, dass der Einsatz digitaler Technologien im Bildungssystem den Pädagog*innen erhebliche Vorteile bringt, da Routinearbeiten wegfallen und Kinder mit physischen und/oder psychischen Herausforderungen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zusätzlich unterstützt werden können (Akhmetova et al., 2020). Doch um einen solchen Wandel zu ermöglichen, müssen die Digitalisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz beherrscht sowie adäquat eingesetzt werden, was zu neuen Unterrichtskonzepten führt (Köhler et al., 2019). Daher müssen online-basierte Formate für die weitere, individuelle Weiterbildung von Lehrkräften berücksichtigt werden, um sie auf eine inklusive Bildungspraxis vorzubereiten (Akhmetova et al., 2020; Open School Doors Project, 2019).   

Während sich neuere Forschungen beispielsweise mit der Nutzererfahrung und der Kundenfreundlichkeit von personalisierten, adaptiven E-Learning-Systemen (Hariyanto, Triyono & Köhler, 2020) sowie mit der Funktion von Peer-Groups als Reaktion auf die digitale Ausgrenzung älterer Erwachsener (Barczik & Köhler, 2019) befassen, wurde und wird der Bereich der digitalen Kultur nicht immer systematisch behandelt. Doch mit der weiten Verbreitung smarter Geräte und deren Kombination mit digitalen Assistenten und Augmented Technologies ist die Bandbreite der technischen Nutzungen um einiges vielfältiger, leistungsfähiger und allgegenwärtiger geworden (Moebert et al., 2019), d.h. sie beeinflusst viele Aktivitäten in einem sehr breiten Spektrum. Digitale Technologie mit einem inklusiven Potenzial ist in vielen Bereichen zu finden (Zörner, Moebert & Lucke, 2017). In Anbetracht dieser Annahme kann die inklusive Bildungspraxis als Konzept dienen, um einen Überblick über aktuelle Ansätze in der formalen Bildung zu geben, die digitale Technologien für inklusive Praktiken einsetzen. Es wird erwartet, dass sowohl die theoretischen Überlegungen als auch die fallbasierten Praktiken zu einem breiteren Bild einer inklusiven, digitalen Kultur beitragen können, indem sie Hinweise auf wirksame Maßnahmen liefern, aber auch auf Ansätze, die nicht gut funktionieren.  

Konzeptionell kann man sich auf Bildungstechnologien als Schnittstelle zwischen Informatik und Erziehungswissenschaft konzentrieren, die ideal positioniert ist, um die potenzielle Anwendung in Richtung integrativer Praktiken auf innovative Weise zu erkennen und zu reflektieren. Das interessanteste Merkmal der digitalen Kultur ist nicht die Geschwindigkeit der technischen Innovationen, sondern vielmehr die Geschwindigkeit, mit der die Gesellschaft all diese Technologien als selbstverständlich ansieht und normative Bedingungen für ihre Nutzung schafft. Innerhalb weniger Monate wird eine neue Fähigkeit in einem solchen Umfang vorausgesetzt, dass die Menschen, wenn sie ausfällt, das Gefühl haben, sowohl ein grundlegendes Menschenrecht verloren zu haben, als auch einen Teil der Identität dessen, was wir als Menschen sind. (Miller & Horst 2012, S. 28). 

 

Literatur: 

Akhmetova, D., Artyukhina, T., Bikbayeva, M., Sakhnova, I., Suchkov, M. & Zaytseva, E. (2020). Digitalization and Inclusive Education: Common Ground. Higher Education in Russia. 29(2), S. 141-150.  

Apollon, D. & Desrochers, N. (2014). Examining Paratextual Theory and its Applications in Digital Culture. Henley: IGI Publishers.  

Barczik, K. & Köhler, T. (2019). Peer-Groups als Antwort auf die digitale Exklusion – Best Practise Beispiel zur Förderung digitaler Fähigkeiten bei älteren Erwachsenen; In: Köhler, T., Schoop, E. & Kahnwald, N. (Hrsg.). Communities in New Media. Researching the Digital Transformation in Science, Business, Education & Public Administration. Proceedings of 22nd Conference GeNeMe 2019. Dresden: TUDPress.  

Bijker, W.E., Hughes, T.P. & Pinch T.J. (1987). The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology. Cambridge: MIT Press. 

Fischer, H. (2012). Know Your Types! Konstruktion eines Bezugsrahmens zur Analyse der Adoption von E-Learning-Innovationen in der Hochschullehre. Universität Bergen.  

Frindte, W. & Geschke, D. (2019). Lehrbuch Kommunikationspsychologie. Wineheim: Beltz-Juventa.  

Gergen, K. J. (1991). The saturated self: Dilemmas of identity in contemporary life. Basic Books.  

Hariyanto, D., Triyono, M. B., & Köhler, T. (2020). Usability evaluation of personalized adaptive e-learning system using USE questionnaire. Knowledge Management & E-Learning. 12(1), S. 85–105. 

Hofstede, G. (1984). Culture’s Consequences: International Differences in Work-Related Values. Beverly Hills: SAGE Publications.  

Kahnwald, N. (2013). Informelles Lernen in virtuellen Gemeinschaften. Nutzungspraktiken zwischen Information und Partizipation. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann.  

Köhler, T. (2003). Das Selbst im Netz. Die Konstruktion des Selbst unter den Bedingungen computervermittelter Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag. 

Köhler, T. (2021). Didactic modeling of a digital instrument for the perception, construction and evaluation of ethical perspectives in AI systems. 8th International Conference on Learning Technologies and Learning Environments.  

Köhler, T. & Kahnwald, N. (2005). Does a class need a teacher? New teaching and learning paradigms for virtual learning communities. Online Communities and Social Computing. New York: Lawrence Erlbaum Associates.  

Köhler, T., Wollersheim, H.-W. & Igel, C. (2019). Scenarios of Technology Enhanced Learning (TEL) and Technology Enhanced Teaching (TET) in Academic Education. A forecast for the next decade and its consequences for teaching staff. Proceedings of the 8th International Congress on Advanced Applied Informatics. 

Koschtial, C., Köhler, T. & Felden, C. (2021). e-Science. Open, social and virtual technology for research collaboration. Berlin: Springer.  

Moebert, T. & Schneider, J. & Zoerner, D. & Tscherejkina, A. & Lucke, U. (2019). How to use socio-emotional signals for adaptive training. In: Augstein, M., Herder, E. & Wörndl, W. (Hrsg.). Personalized Human-Computer Interaction, S. 103-132.  

Miller, D. & Horst, H. A. (2012). The Digital and the Human. In: Horst, H.A. & Miller, D. (Hrsg.) Digital Anthropology, S. 3-35.  

Open School Doors (2019). Open School Doors Training Framework. Von http://openschooldoors.westgate.gr/ abgerufen.  

Zoerner, D. & Moebert, T. & Lucke, U. (2017). IT-gestütztes Training sozio-emotionaler Kognition für Menschen mit Autismus. Informatik-Spektrum, S. 546-555.